Ob Facebook, Twitter, Snapchat oder WhatsApp: Social-Networks sind fester Bestandteil unserer Mediengesellschaft. Zumal die „alten“ Massenmedien ebenfalls ihre „Sendeleistung“ erhöhen, indem sie zunehmend ihre Präsenz in den Social-Networks ausbauen (z.B. „Second Screen“ von ZDF). Schulen entgegnen diesem Phänomen häufig mit dem (verzweifelten) Versuch Social-Networks durch „Handy-Verbote“ auszusperren, um so den Risiken aus dem Weg zu gehen. Kurzfristig ist dies ohne Zweifel wirksam. Andererseits lagert man die Verpflichtung zum Erwerb von Kompetenzen zum verantwortungsvollen Umgang mit
Social-Networks an die Kinder und Jugendlichen bzw. deren Eltern aus. Letztere sind häufig „erfahrene“ User, die allerdings das technische Funktionsprinzip, das Geschäftsmodell und die sozialen Mechanismen innerhalb eines Social-Networks nur bedingt kennen. Somit bleibt es meist bei abstrakten Mahnungen vor Social-Networks an die jüngere Generation, die das entweder kritiklos befolgt oder geflissentlich ignoriert.
Für Projekttage gab es bisher Angebote von außerschulischen Initiativen zum Umgang mit Social-Networks, die sich z.T. darauf beschränken, mit „worst-practices“ zu emotionalisieren, um anschließend den Kindern und Jugendlichen zu erklären, wo sich die Datenschutzeinstellungen einzelner Angebote verbergen. Diese richten sich damit speziell an jene, die längst einen Account haben und bereits erste positive und/oder negative Erfahrungen gesammelt haben.
Vor diesem Hintergrund entstand im Rahmen eines ESF-Projektes an der Universität Leipzig auf Wunsch der Eltern einer fünften Klasse in Zusammenarbeit mit der Klassenlehrerin Antje Weber das Social-Network-Offline-Spiel:
Innerhalb des geschützten Raumes der Klasse ermöglicht es den Kindern und Jugendlichen (und den Eltern) praktische Erfahrung mit einem Social-Network zu erlangen, ohne dafür einen Rechner anschalten oder ihre Daten und Identität an einen der Anbieter preisgeben zu müssen. Anstatt mit Kindern und Jugendlichen über Social-Networks zu reden und den Zeigerfinger zu erheben, erleben sie innerhalb einer Spielzeit von 25-40 Minuten ihr eigenes soziales Netzwerk mit all seinen Sonnen- und Schattenseiten. Und zwar mit Stift, Zetteln und vielen Post-Its. Analog zu einem echten Social-Network legen die Spielenden ein möglichst attraktives und kreatives Profil innerhalb festgelegter Parameter an. Anschließend führen sie allein oder mit Mitspielern verschiedene Aktionen aus, um Aufmerksamkeit und „Freundschaften“ im Social-Network zu erlangen. Durch verschiedene Minispiele ist es zudem möglich, „Freundschaften“ zu verlieren, was den Druck auf die Spielenden erhöht. Im Laufe des Spiels entsteht ein unübersichtliches Chaos, da jeder an einer anderen Aktion arbeitet.
Dadurch lernen sie Mechanismen und Praktiken der Selbstinszenierung kennen, erfahren Selbstentblößung und Kontrollverlust innerhalb eines Social-Networks.
Anschließend können die Spielenden in der Reflexionsphase aufgrund eigener Erfahrungen Social-Networks bewerten, beurteilen und eigene Regeln zum Umgang formulieren.
Welche Schwerpunkte man bespricht, hängt zum einen von der Gruppe, aber auch von den Ereignissen im Spiel ab. Wie in einem echten sozialen Netzwerk, entwickelt sich auch im Offline-Spiel eine Eigendynamik, die die Spielenden mitreißt und nicht zu unterschätzen ist.
Mögliche Themenschwerpunkte könnten sein:
- Ökonomisierung von menschlichen Beziehungen
- Dynamik
- Gruppenprozesse
- Freundschaften/ Anerkennung/ Zustimmung
- Transparenz
- Kontrollverlust
- Echo-Effekt und Filterblasen durch Netzwerkbildung
- Vereinsamung im Netzwerk
- Diskriminierung / Hatespeech / Fakenews
Erfahrungen
Was als einmalig geplante Aktion entstand, wird von den Autoren regelmäßig in den eigenen Schulen durchgeführt. Wegen der klaren Strukturierung, der einfachen Vorbereitung, des geringen technischen Aufwands ist es möglich, das Social-Network-Offline-Spiel innerhalb einer Doppelstunde in den Jahresplan zu integrieren. In (teil)gebundenen Ganztagsschulen bietet sich ein Themennachmittag dazu an. In Elternabenden und an pädagogischen Tagen kann ebenso „gespielt“ werden.
Es erstaunt jedes Mal aufs Neue, welche Dynamiken sich in verschiedenen (Lern)gruppen ergeben. Kein Netzwerkspiel ist vergleichbar mit einem anderen. Der oben kurz skizzierte Ablauf des eigenen Erfahrens und anschließenden Reflektierens hat sich als nachhaltig wirksam gezeigt. Direkt im Anschluss an die Spielphase berichtet der überwiegende Teil der Spielenden vom hohen Grad der Belastung, die das Spiel ausgelöst hat. Viele SpielerInnen empfinden starken Stress. Dies ist zum einen durch den ständigen Zwang zum Umherlaufen, Lesen und Schreiben von Nachrichten per Hand zu erklären. Andererseits haben viele, wie im echten Leben, die Absicht, wirklich alles lesen zu wollen, was gepostet wird und fühlen sich zunächst positiv, dann zunehmend gezwungen, dazu angeregt, auf alle Posts zu reagieren.
Da die Entwicklung des Spiels auf Wunsch der Eltern der oben beschriebenen Klasse erfolgte, luden wir diese ein, mit ihren Kindern gemeinsam zu spielen. Da jeder unter Pseudonym spielte, begegneten sich alle Spielenden auf Augenhöhe. Kinder und Erwachsenen erlebten gemeinsam den Spaß, aber auch den Stress, der mit Social-Networks verbunden ist. Auffallend war zudem, dass vielen Erwachsenen erst dadurch bewusst wurde, was sie jeden Tag selbst erlebten. In der anschließenden Reflexionsphase mischten wir die Spielenden so, dass die Kinder nicht mit ihren, sondern mit anderen Eltern das eben Erlebte besprachen. Dadurch begegneten sich die TeilnehmerInnen erneut auf Augenhöhe. Es entstanden Gespräche unter „Experten“, ohne, dass der Altersunterschied oder die Familienzugehörigkeit eine Rolle spielten. Im Nachhinein wurde sowohl von Eltern als auch von Kindern dieser Klasse berichtet, dass es weiterhin Diskussionsbedarf innerhalb der Familien gab und weiterhin gibt. Ein Diskurs wurde angeregt. Eltern wollten und konnten mit ihren Kindern zum Thema ins Gespräch kommen und eigene Lösungen finden.
Trotz des oben beschriebenen Stresses während des Spiels, bleibt es ein Spiel!
Die Erfahrungen, die hier in entspannter, freudvoller Atmosphäre gemacht werden, in den Alltag jeder Familie oder Schule zu übertragen, Ängste abzubauen und einen gesunden und achtsamen Umgang mit Social-Networks zu schulen, ist erklärtes und realisierbares Ziel des Spieles.
Zuerst erschienen in: Bundesarbeitskreis der Seminar- und Fachleiter/innen e.V. (BAK) [Hrsg.]: Seminar – Lehrerbildung und Schule, Heft 1/2017, S. 86-89.
Die Spielanleitung und Vorlagen können stehen Ihnen zur freien Verfügung unter:
http://tinyurl.com/hrk63x2